Camilo Sanchez - Die Witwe der Brüder van Gogh

Johanna van Gogh-Bonger ist quasi mit zwei Männern verheiratet: sie ist die Ehefrau von Theo van Gogh, dem Bruder des damals noch vollständig unbekannten und von Armut und Elend bedrohten Malers Vincent. Zwischen den beiden Brüdern besteht jedoch ein Band, das so eng ist, dass Johanna manchmal das Gefühl hat, von ihrem Mann kaum wahrgenommen zu werden, ständig steht der Bruder im Mittelpunkt. Sie hat nichts dagegen, dass Theo den Bruder mit monatlichen 150 Francs unterstützt, aber sie bereut hin und wieder, den kleinen Sohn nach seinem Onkel benannt zu haben. Der Name scheint ein schweres Erbe zu sein.

 

Der Roman setzt ein mit dem Selbstmord Vincent van Goghs. Er hat sich in die Brust geschossen, ist aber nicht sofort tot. Theo und André Bonger, Johannas Bruder, eilen zu ihm nach Auvers-sur-Oise, Vincent stirbt in Theos Armen.

André erzählt Johanna:

"Theo sei tatsächlich fast zusammengebrochen, während Vincent, trotz der Kugel in seinem Körper, ruhig dagelegen und geraucht habe, das sichere Ende fest im Blick."

 

Ab diesem Tag ist Theo, der vier Jahre jüngere Bruder Vincents, ein gebrochener Mann. Er verfällt in schwerste Depressionen, kann weder arbeiten, noch sich um seine Familie kümmern. Er entwickelt Wahnvorstellungen, leidet an partiellen Lähmungen, er kann schließlich das Bett nicht mehr verlassen und stirbt sechs Monate später seinem Bruder hinterher. Anders kann man es nicht ausdrücken.

Die allerletzte Zeit hatte die kleine Familie bei Johannas Schwester Karah in Leiden verbracht. Johanna hat es nicht mehr ausgehalten in Paris, sie wollte zurück nach Holland.

 

Johanna, sie ist nun achtundzwanzig, das Söhnchen Vincent gerade ein Jahr alt, ziehen nach Theos Tod zu Johannas Eltern nach Amsterdam.

 

Parallel zu diesen Ereignissen aus Theos und Johannas Leben erzählt Sanchez von den Bemühungen einiger Freunde in Paris, Vincent van Goghs Bilder ausstellen zu können.  

Sie misslingen allesamt, so dass Johanna sich sehr bald darum bemüht, die Gemälde und Zeichnungen zu sich nach Holland zu holen. Sie war es gewohnt, von einer Flut an Farben umgeben zu sein, in ihrer Pariser Wohnung stapelten sich dutzende, hunderte von Bildern - sie vermisst sie.

 

Johanna möchte auf eigenen Füßen stehen - sie überlegt, wie sie ihren Lebensunterhalt mit einer Tätigkeit sichern kann, der für eine junge Witwe mit Kind angemessen ist.

Die kluge Frau entscheidet sich dafür, in Bussum, einem

20 Kilometer entfernten Dorf, eine kleine Ferienpension zu eröffnen. Mit der Unterstützung ihrer Eltern kann sie die "Villa Helma" erwerben und renovieren.

Diese Villa bietet den Bildern van Goghs einen ersten großen Auftritt in der Öffentlichkeit. Bald kommen die Gäste auch in die Pension, weil sie die Bilder sehen möchten.

 

Neben der Leitung ihrer Pension, der Erziehung Vincents und der allnächtlichen Lektüre der Briefe, die sich Theo und Vincent in den letzten zehn Jahren ihres Lebens schrieben (es sind über 600), kümmert sich Johanna um Ausstellungs-möglichkeiten für die Bilder. Sie ist nicht allzu sehr daran interessiert, sie zu verkaufen, sondern sie möchte sie erst einmal bekannt machen. Als umsichtige Geschäftsfrau weiß sie, dass die Bilder an Wert zulegen, wenn sie erst richtig bekannt sind, und sie sieht ihren Platz auch eher in den großen Museen als in Privathäusern. 

Denn eines ist ihr schon seit vielen Jahren klar: diese Bilder sprengen jeden bisher dagewesenen Rahmen, sie sind etwas völlig Neues, sie sprechen mit dem Betrachter und gehen in Musik über.

 

"Dabei stellte ich immer wieder fest, dass sich zwischen zwei Menschen, die gemeinsam ein Bild Vincent van Goghs betrachten, ein wortloser Dialog entspinnt, eine Art unhörbarer Musik. Und jenseits aller Erklärungen entsteht ein geheimes Einverständnis."

 

Sieben Ausstellungen organisiert Johanna in einem Jahr,

der Höhepunkt ist die Ausstellung im großen "Kunstzaal Panorama" in Amsterdam von Dezember 1892-Februar 1893. Für die dortige Präsentation stellt Johanna fünfundsiebzig Gemälde, fünfundzwanzig Zeichnungen und fünfzehn Briefe zusammen. Die Ausstellung wird ein großer Erfolg.

Nach der großen Ausstellung in Amsterdamer Stedelijk-Museum 1905 mit 457 Bildern ist Van Gogh angekommen in der Wahrnehmung durch Kritiker, Händler, Publikum.

 

Es ist der Anfang einer posthumen Rezeption, die sich in schwindelerregende Höhen schraubt.

Johanna ediert auch den Briefwechsel, heute wird ihr angekreidet, dass sie die Briefe nicht vollständig veröffentlicht hat. Sie hat redigiert und gestrichen, doch es bleibt anzuerkennen, dass sie ihren Wert - auch in literarischer Hinsicht - erkannt hat.

 

Johanna war nicht wie Wil van Gogh (eine Schwester ihres Mannes) in der Frauenbewegung aktiv, sie kämpfte nicht für Wahlrecht und Selbstbestimmung, doch ihre Geschichte ist die einer gelungenen Emanzipation.

 

Sanchez Roman ist eine gelungene Einsicht in das Leben der Frau, der es zu verdanken ist, dass van Goghs Werk erhalten blieb und bekannt wurde. 

Er liest sich leicht und flüssig, verzichtet auf (kunst)theoretische Überlegungen, konzentriert sich auf die Bemühungen Johannas, ihr Leben als Witwe zweier Männer eigenmächtig zu gestalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Camilo Sanchez: Die Witwe der Brüder van Gogh

Übersetzt von Peter Kultzen

Unionsverlag 2014,192 Seiten

Taschenbuch: Unionsverlag, 2016, 192 Seiten

(Spanisches Original 2012)