Kamila Shamsie - Die Straße der Geschichtenerzähler

Shamsie hat einen historischen Roman verfasst, der durch seine Fülle an Themen, Personen, Eindrücken, Beschreibungen, Farben, der Einbettung politischer Entwicklungen auf zwei Kontinenten und der persönlichen Reifung junger, begeisterter Menschen, beeindruckt.

Er spielt in der Türkei, in Belgien und England, sowie in Peschawar.

 

Die Geschichte beginnt mit einem kurzen vorgestellten Rückblick ins Jahr 515 vor Christus. Die Rede ist von Skylax, einem mutigen Mann, der als Erster den Indus in Gänze befahren hat und einen kunstvollen Silberreif besitzt, der noch Jahrtausende später die Phantasie der Archäölogen beflügeln wird.

 

Die eigentliche Geschichte, deren erster Teil Für König und Vaterland überschrieben ist, beginnt im Juli 1914 in der Türkei. Die junge Vivian Rose Spencer, eine zweiund-zwanzigjährige Archäologin arbeitet an einer Ausgrabung in Labraunda mit. Sie ist Teil eines Teams von Engländern, Deutschen und Türken, geleitet wird die Ausgrabung von Tashin Bey, den Vivian von Kindesbeinen an kennt. Er ist ein Freund ihres Vaters und er weckte das Interesse an den alten Zeiten in ihr, als sie elf Jahre alt war. Zwischen den beiden entwickeln sich mehr als freundschaftliche und kollegiale Gefühle, eine zarte Liebesverbindung bahnt sich an. Sie besteht aus vertrauten Worten, stummem Einverständnis und Träumen. Tashin erzählt Vivian von dem Silberreif des Skylax und wo er diesen vermutet, dass er davon träumt, diesen eines Tages auszugraben und er erzählt ihr von der armenischen Herkunft seiner Mutter und seiner Verbundenheit mit diesem Volk, in dem sich gerade eine Widerstandsbewegung gegen die Türken entwickelt.

 

Nach Ausgrabungsende fährt die Gruppe nach Konstantinopel, wo sie erfährt, dass Krieg ausgebrochen ist. Die Deutschen sind nun plötzlich die Feinde Vivians, die so schnell wie möglich nach London zu ihren Eltern zurückkehrt.

Sie fängt an, als Krankenschwester zu arbeiten - das ist patriotische Pflicht. Ihr Vater, der darunter leidet, keinen Sohn zu haben, erwartet von seiner Tochter, dass sie ihr möglichstes tut, um dieses Manko der Familie gutzumachen.

 

Sie schreibt häufig an Tashin, weiß aber nicht, ob ihre Briefe ihn erreichen. Unerwartet kommt ein Herr des War Office auf sie zu und bittet sie um ihre Skizzen, diese sollen der Landkartendivision übergeben werden. Außerdem verrät sie ihm Tashins Geheimnis seiner Sympathie für die armenische Widerstandsbewegung. Zu weit weg ist Tashin mittlerweile, zu sehr ist sie mit Großbritannien im Krieg verbunden, und zu groß ist ihr Wunsch, vom Vater gelobt zu werden.

 

Eine Weihnachtskarte mit verschlüsselten Botschaften Tashins fachen Vivians Sehnsucht nach der Ferne, nach der Suche der Vergangenheit und ihrer Geschichte wieder an.

Sie schafft es, im Juli 1915 nach Peschawar zu reisen, sie hat genaue Vorstellungen, wo sie den Silberreif suchen will.

 

Parallel dazu wird die Geschichte der 40th Pathans erzählt, paschtunische Soldaten, die für das Empire kämpfen, zuletzt in Ypern. Dort setzten die Deutschen am 22.4.1915 erstmals Chlorgas ein.

Qayyum Gul steht für diese Männer, er verliert ein Auge, wird in Brighton gesund gepflegt, kehrt im Juli 1915 nach Peschawar zurück. In seinem Abteil sitzt eine englische Lady, die ihn sehr in Verlegenheit bringt mit ihrer ungezwungenen, europäischen Art.

 

Diese Lady wird gleich am Bahnsteig von einem Jungen im Empfang genommen, der sich ihr als Führer anbietet. Es ist Najeeb Gul, der Bruder Qayyums, das stellt sich aber erst sehr viel später heraus.

Vivian wird für Najeeb das, was Tashin für sie war: sie erweckt sein Interesse an der Geschichte des Landes, an der Archäologie, sie bringt ihm Altgriechisch bei, damit er Herodot lesen kann, sie führt ihn ins Museum ein und zeigt ihm die Schönheit der Exponate, sie zeigt ihm, dass sein Land eine uralte Geschichte hat - und sie gibt den Traum, den Silberreif zu finden, an ihn weiter.

 

Mit diesem Unterricht reißt sie Najeeb ein Stück weit aus seiner Familie und aus seiner Kultur heraus. Er soll den Koran lesen und nicht Buddha-Statuen studieren oder griechische Geschichtenerzähler lesen. Er soll sich nicht alleine mit einer Engländerin  in deren Hotelzimmer aufhalten, er ist mit seinen zwölf Jahren kein kleines Kind mehr.

Qayyum verbietet es Najeeb eines Tages, Vivian weiterhin zu besuchen. Dieser akzeptiert das erstmal, gibt aber seine Studien nicht auf und hört auch nicht auf, das Museum zu besuchen. Später wird er der wissenschaftliche Leiter eben dieses Hauses, sein Bruder bezweifelt, ob Najeeb überhaupt mitbekommt, was sich in der Gegenwart abspielt.

 

Der zweite Teil des Romans ist überschrieben mit Herodot des 20. Jahrhunderts. Dieser ist Najeeb. Er erzählt die Geschichte weiter, er findet den legendären Reif.

Um ihn gleich wieder zu verlieren in den dramatischen Ereignissen des April 1930.

 

Der Leser ist mittlerweile tief eingetaucht in die Jahre, in welchen sich der gewaltlose Widerstand der Kongresspartei gegen die Engländer formiert. Ein militärischer Arm hat sich abgespalten, Qayyum hat sich einem Führer angeschlossen, der für Bildung und Gewaltlosigkeit plädiert. Er gehört zu jenen Männern, die in der Ummauerten Stadt, der Altstadt von Peschawar, demonstrieren und der in den Kugelhagel der Engländer gerät. Er überlebt, muss aber das Sterben um sich herum ansehen. Und er sucht seinen Bruder, der spurlos verschwunden ist.

 

Während die ersten beiden Teile des Romans die Ereignisse eines oder mehrerer Monate in den Blick nehmen, verkürzt sich dies im zweiten und dritten Teil auf ein oder zwei Tage. Shamsie gestaltet ihre Geschichte nach Art einer Spirale, die von außen nach innen immer enger an den Kern des Geschehens herankommt.  

Die Tage des 23. und 24. April 1930 werden mehrere Male aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Qayyum und Najeeb, Vivian (die just an diesem Tag auch wieder in Peschawar ankommt, Najeeb hat alles vorbereitet, er will sie mit der Neuigkeit aller Neuigkeiten überraschen), eine Frau namens Zarina und ihre junge Schwägerin Diwa geraten in den Mittelpunkt des Interesses - ganz engmaschig wird berichtet, wobei Vivian zunehmend aus diesem engen Kreis herausfällt. Die Burka, die sie wie eine Tarnkappe trägt, macht sie unsichtbar, und sie gehört auch hier nicht mehr dazu.

 

Die einzige Frage, zweites Kapitel des zweiten Buches, lautet für sie: stimmt es, dass sie Tashin Bey ans Messer lieferte, wie dessen Neffe ihr in einem Brief schreibt?

Die einzige Frage für Zarina lautet: wo ist Diwa? 

Najeebs Frage nach dem Silberreif (ein Stück Geschichte, das man in den Händen halten kann) löst sich ab durch die Frage der Schuld - auf sie kann es keine Antwort geben.

 

Der Roman ist sehr komplex, prall gefüllt mit sinnlichen Eindrücken und historischen Fakten, mit Befreiungs-versuchen von Nationen und Personen (Vivian genießt die Freiheit, die sie nur hat, wenn sie nicht in England ist, die aber an ihre englische Herkunft geknüpft ist), mit dem Herantasten an die eigene Geschichte, die eigene Schuld.

Es ist kein Roman, der pittoresk in fremden Gegenden wandelt und bei Rosen- und Feigendüften verweilt, obwohl er auch das tut. Er ist vielmehr ein politischer Roman, der die Geschichte uralter Zeit mit Bewegungen der Neuzeit verknüpft. 

Es ist sehr gut gemacht, wie der Strudel, in dem die Ereignisse erzählt werden, im bewegungslosen Auge des Taifuns zu einem Ende kommen: an einem frischen Grab.

In dem der Silberreif in einen Turban gewickelt seinen neuen Platz findet.

 

Ein Text Najeebs über Skylax beendet die Geschichte, angefügt ist auf Wunsch Qayyums ein Dank an Vivian, "Archäologin und Vorkämpferin für die Befreiung der Völker Indiens und Britanniens vom Empire."

 

 

 

 

 

 

Kamila Shamsie: Die Straße der Geschichtenerzähler

Übersetzt von Ulrike Thiesmeyer

Berlin Verlag, 2015, 384 Seiten

Berlin Verlag Taschenbuch, 2016, 432 Seiten

(Originalausgabe 2014)