Raymond Vouillamoz - Eugènie, Die Magd des Kretins

Tagebuch einer Reise

Dieses "Tagebuch einer Reise" vereint zwei Lebensläufe: die des Waisenkindes Eugènie aus einem kleinen Tal hoch im Wallis mit dem des aus bester Familie stammenden Frederick Zen Zaenen. Dieser wurde mit dem im Wallis nicht seltenen Kretinismus geboren und dafür von seinen Eltern verachtet. Er passte nicht in die Familie, die über die Jahrhunderte durch                                                                       Söldnerdienste reich geworden war.

 

Der erste Teil des Buches stammt aus der Feder Fredericks.

Er beginnt 1798, da ist er siebzehn Jahre alt. Frederick  beschreibt kurz die Symptome seiner Krankheit, zum Glück entwickelte er sich zu einem leichten Fall. Er lernt Lesen und Schreiben, auch das Klavierspielen, leidet aber an einer Schwäche der Beinmuskulatur. Aus diesem Grund wird er von seinem Vater zur Kur nach Leukerbad geschickt. Nicht nur, um sein Leiden zu lindern, sondern auch, oder vor allem, um ihn vor dem Kriegsdienst zu bewahren:

"Ihr seid von zu schwacher Konstitution, um Offizier zu werden, wie es sich für einen Spross der Zen Zaenen geziemt, da werdet Ihr mir zustimmen", so der Vater.

 

Frederick steigt in der besten Pension des Ortes ab und wird dort von einer liebenswürdigen jungen Frau begrüßt:

"Ich heiße Euch willkommen, gnädiger Herr. Mein Name ist Eugènie, und ich werde Euch während Eures ganzen Aufenthalts zu Diensten sein, wenn Ihr möchtet."

 

Mit diesen Worten beginnt eine leidenschaftliche und innige Liebesgeschichte. Es dauert nicht lange und Eugènie ist schwanger. Doch da klopft das patriotische Gewissen bei Frederick an. Gegen den Willen seines Vaters meldet er sich zum Dienst, er will wie die anderen jungen Männer gegen Napoleon in die Schlacht ziehen.

 

Der Autor nutzt die Erlebnisse Fredericks, um die Schrecken des Krieges lebhaft auszumalen. Dieses Thema wird sich in dem Buch, das sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein erstreckt, zu einem eigenen Erzählstrang entwickeln.

 

Am Ende des Jahres 1799 kommt Othmar zur Welt. Frederick hat den Dienst quittiert, er und Eugènie sind mittlerweile verheiratet. Trotz oder wegen des Säuglings und der Erlebnisse während der Geburt, macht Eugènie eine Ausbil-dung zur Hebamme. Sie zieht ins protestantische Yverdon, erlernt dort diesen Beruf und entwickelt sich zu einer eigenständigen Person, die immer weniger einverstanden ist mit den konservativen Ideen des katholischen Wallis.

So lässt sich die Familie von einem protestantischen Missionar anwerben, um mit einem Treck auf die Krim zu ziehen und dort die Kolonie Zürichtal zu gründen. 

 

Nach langer Reise kommen die Auswanderer dort an und bauen eine Siedlung auf. Die Beziehung Eugènies und Fredericks hingegen bröckelt. Eugènie entfernt sich immer mehr, schließlich auch räumlich, indem sie eine Stellung als Hebamme in einem Krankenhaus in der Stadt annimmt.

Das bedeutet, sie verlässt Zürichtal. Schließlich wird sie die Ehe verlassen, zu groß ist die Entfremdung, auch der gemeinsame Sohn Othmar kennt seinen Vater kaum noch. 

 

Der letzte Absatz dieses Tagebuches wird von einem Erzähler gestaltet. Dieser berichtet vom traurigen Ende Fredericks, der in der Einsamkeit versank.

 

Im zweiten Teil erzählt Eugènie. Ihr gelingt ein märchen-hafter Aufstieg im Zarenreich. Ihre Dienste als Hebamme sind legendär und verhelfen ihr zu einem Platz im innersten Bereich der Macht. Manchmal fliegt eine Erinnerung an ihren verlassenen Ehemann in ihre Gedanken, doch sie hat sich weit von dieser Welt entfernt, ist ein ganz anderer Mensch geworden, nachdem sie ihren ehemaligen Chef, einen Arzt, geheiratet hat.

 

Die beiden letzten Teile verflechten die Geschichte der Nachkommen Eugènies und Fredericks vor allem mit der Historie Russlands. Revolution, Kriege, die stalinistischen Säuberungen, die vor Zürichtal nicht Halt machen, bis zur Befreiung Berlins. Ein Ururenkel reflektiert noch einmal die Eigenschaften, die die fernen Vorfahren ihm mitgaben: die Musikalität Fredericks, der unter anderem den Beruf des Organisten ausgeübt hatte, den Mut und die Geschicklichkeit Eugènies.

 

Das Doppelporträt der beiden, eingebettet in die geschicht-lichen Entwicklungen Europas, spricht auf relativ kleinem Raum so viele unterschiedliche Punkte an, dass man staunt. Die Sprache ist ganz die der damaligen Zeit. Es wird chronologisch erzählt, die Protagonisten entwickeln sich,

sie vertrauen sich ihren Tagebüchern an, wo nötig greift ein Erzähler von außen erklärend ein. 

Das Buch beeindruckt durch die Widerstandsfähigkeit des niemals geliebten Kindes Frederick, der sich zu einem verantwortungsvollen Mann entwickelt - so lange er die starke, ehemalige Magd an seiner Seite hat.

Es beeindruckt durch die Entwicklung Eugènies, die über eine pragmatische Intelligenz verfügt und nicht einmal vor Gott Angst hat:

 

"Ich glaube nicht mehr an einen allmächtigen Herrn, und ich will nicht mehr so tun, als ob. Das Paradies muss auf der Erde sein, nicht im Himmel. Es hängt nur von uns ab."

 

Das "Tagebuch einer Reise", einer Reise vom Wallis über die Krim bis ins Herz Russlands, einer Reise durch 150 Jahre Geschichte, zeichnet die historischen Entwicklungen nach. Es erzählt von den Einflüssen der Zeit und Welt auf das Leben der Menschen, aber auch von den Möglichkeiten des Einzelnen, eigene Wege zu gehen.

 

Es ist der erste Roman des 1941 im Wallis geborenen Autors. Er war Journalist, Filmkritiker und Produzent, Programm-direktor und Regisseur. Diese Nähe zum Film lässt sich auch in seinem Roman ablesen, ohne Mühe entstehen im Kopf der Lesenden die Bilder, fügen sich die Szenen zu einem großen Panorama zusammen. Ein bewegendes Debüt!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Raymond Vouillamoz: Eugènie, Die Magd des Kretins

Tagebuch einer Reise

Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer

Bilgerverlag, 2022, 180 Seiten

(Originalausgabe 2019)