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Februar 2020

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Alexander Häusser: Noch alle Zeit

Edvard lebt mit über sechzig noch bei der Mutter - er wollte immer der gute Sohn sein, er meinte, den Vater ersetzen zu müssen, der die Familie am Tag nach dem zehnten Geburtstag Edvards verließ.

Nach ihrem Tod findet er ein Sparbuch mit einem Vermögen, er wusste nichts davon. Die Suche nach der Herkunft des Geldes ist eine späte Suche nach dem Vater - sie führt ihn nach Norwegen. Auf der Fähre trifft Edvard die junge Journalistin Alva, die ihre kleine Tochter bei ihrer Mutter zurückgelassen hat, um für ein Projekt zu recherchieren. Die beiden setzen ihre Reise gemeinsam fort, der Roman wird zum Roadmovie, in dem Alexander Häusser die vielschichtige Beziehung zwischen Eltern und Kindern beleuchtet.

Er spürt den Schatten nach, erkundet, wie eine Lüge einen Menschen prägen kann. Ohne Hast und ohne Bewertung, mit Feingefühl und dramaturgischem Geschick entwirrt er das Geflecht, das sich Leben nennt. Sehr lesenswert.

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Thien Tran: Gedichte

Mit dem Begriff "Existenzerforschung" lassen sich die mehr als hundert Gedichte Thien Trans (vielleicht) fassen. Ein "Ich" sucht einen Platz in der Welt - welcher Welt, muss sofort gefragt werden. Ausgehend von Naheliegendem, Sichtbarem, Hörbarem, oder auch von einer Idee, wie "Demokratie" oder "Musique Conrcéte", fliegen die Gedanken Thien Trans über die Zeilen hinaus. Er bleibt nah an der Welt, zugleich gibt es kein Gedicht, das nicht einen tiefen Raum unterhalb der Oberfläche trägt. Verschiedene Ebenen der Wahrnehmung und des Seins überlagern sich, gehen ineinander über - Thien Tran (1979-2020) lotet Möglichkeiten aus. Sie geben viel zu bedenken, diese Gedichte, sie sind aber auch einfach schön.

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Isabel Figueiredo: Roter Staub

Mosambik am Ende der Kolonialzeit. 

Erinnerungen

Dieses "Heft mit Erinnerungen an die Kolonialzeit" räumt gründlich mit dem Ammenmärchen auf, der portugiesi-sche Kolonialismus sei ein sanfter gewesen. Aus der Perspektive des Kindes erzählt die Autorin, die 1963 in Mosambik als Tochter portugiesischer Siedler zur Welt kam, von Rassismus und Gewalt, vom Glauben der Weißen, die Neger seien Tiere. Sie verließ das Land 1975, als es die Unabhängigkeit erkämpfte, lebte fortan als retornado bei der Großmutter. Die Erinnerungen beschreiben das Ringen mit dem Vater, die Suche nach der eigenen Identität, und sie sind eine schonungslos ehrliche Darstellung der Verhältnisse in Afrika. Isabel Figueiredo entwickelt eine eigene literarische Stimme, es gelingt ihr, lebendige Figuren zu erschaffen, die an ihre Eltern und die Großmutter angelehnt sind. Eine bereichernde Lektüre, die auch einen Ausweg aus rassistischem Denken aufzeigt:

im anderen sich selbst zu erkennen.

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Jonathan Coe: Middle England

Im Kleid eines Familienromans versucht der 1961 geborene Autor zu ergründen, was "Merrie, Deep, Old England" in den Brexit getrieben hat. Wenige Haupt- und viele Nebenfiguren stehen jeweils für eine Generation, Schicht, politische Haltung, dies gibt dem Autor die Möglichkeit, aus vielen vielen Winkeln auf die Entwicklungen der letzten vierzig Jahre zu blicken. Er komponiert einen spannenden Roman, der stete Wechsel an Personen und Perspektiven entwickelt einen starken Sog - man kann sie kaum aus der Hand legen, diese Geschichte aus dem Herzen Englands.

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Tine Hoeg: Neue Reisende

Bei der Zugfahrt an ihrem ersten Arbeitstag als Lehrerin lernt die Ich-Erzählerin einen (verheirateten) Mann kennen. Sofort besteht eine ungeheure Anziehungskraft, die beiden treffen sich nun regelmäßig heimlich. Neben dieser verrückten und auch aussichtslosen Liebe muss sich die junge Frau in ihrem Beruf zurechtfinden, was ihr nicht auf Anhieb gelingt. Tine Hoeg beschreibt mit sparsamen Worten, mit viel Raum zum Nachdenken, mit Empathie und Situationskomik diesen (Irr)Weg, das Schlingern, Suchen und Ausprobieren - ihr gelingt ein beeindruckender Roman, der neue Wege des Erzählens geht.

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Noëmi Lerch:

Willkommen im Tal der Tränen

Was wäre die Schweizer Hochgebirgs-welt ohne sie: Zoppo, den Tuniar und den Lombard. Drei schwer schuftende Männer, die einander zuarbeiten, Kühe hüten, Käse machen, am Tisch sitzen, schweigen und in den Mond schauen. Dabei treiben sie allerhand Gedanken um - einen ganzen Sommer lang geht das so. Geschaffen haben diese wundersame, entrückte und doch gegenwärtige Lebenswelt die Schweizer Autorin Noemi Lerch und ihre zeichnenden Partnerinnen Walter Wolff.

Was Sie da Händen halten ist ein sorgfältig komponierter Text-Bild-Band, eine kleine Kostbarkeit.

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