Gabrielle Zevin - Morgen, morgen und wieder morgen

"`Was ist ein Spiel?´, fragte Marx. `Es ist morgen, morgen und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.´"

Dieses Zitat stammt von Shakespeares Macbeth aus dem gleichnamigen Stück.

 

Um spielen, leben, lieben, um Freundschaft, Verrat, Scheitern und wieder Aufstehen, um das richtige Timing und das berühmte Quäntchen Glück geht es in diesem Roman der 1977 in New York geborenen Autorin Gabrielle Zevin.

 

Er umspannt die Zeit von Mitte der 1980er Jahre bis ca. 2010, fünfundzwanzig Jahre Lebenszeit ihrer Protagonisten. 

Diese sind Samson Masur, der sich später Sam Mazer nennt, und Sadie Green. Sie begegnen sich zum ersten Mal in einem Krankenhaus in Los Angeles. Sadies Schwester wird dort wegen Leukämie behandelt, Sadie ist zu Besuch und gelangt zufällig in das Spielezimmer der Klinik. Sie ist elf und fasziniert von dem Spiel, das ein Junge dort spielt: Super Mario Brother.

"Willst du den Rest von diesem Leben spielen?" fragt er sie.

"Nein. Du machst das echt gut. Ich kann warten, bis du stirbst" ist ihre Antwort.

 

Es sind die ersten Worte, die der zwölfjährige Sam nach sechswöchigem Schweigen spricht und es ist sofort die Verbindung zu Sadie da und auch die von Leben und Spiel. 

 

In diesem Krankenhauszimmer wird der Grundstein zu einer Freundschaft gelegt, die mit Unterbrechungen aufgrund von Missverständnissen und Verwundungen über Jahrzehnte anhalten wird.

Mit Anfang zwanzig entwickeln und programmieren Sadie und Sam ihr erstes gemeinsames Videospiel, es wird so erfolgreich, dass eigens dafür eine Produktionsfirma gegründet wird. Mit Marx, dem geschäftstüchtigen Mitbe-wohner Sams, der die Firma managt, kommt die dritte Person hinzu, die das Panorama an Persönlichkeiten erweitert.

 

Sadie kommt aus einer gutsituierten jüdischen Familie, Sam kennt seinen amerikanischen Vater kaum. Er lebt mit seiner Mutter, später mit seinen aus Korea stammenden Großeltern in K-Town, wo sie eine Pizzeria betreiben.

Marx ist von japanischer Herkunft, seine Eltern sind gut betucht. Diese unterschiedlichen Milieus dienen dem Roman als Hintergrund, Rassismus ist ein sich durchziehendes Thema, wie auch Sexismus.

 

Neu war für mich als Nicht-Gamerin die Komplexität der Spiele, das Herzblut, mit dem sie entwickelt werden, die Fantasie, die notwendig ist, die Riesenmenge an Arbeit, ästhetischen Entscheidungen, und vor allem der geistige Horizont, der sich in ihnen erstreckt. 

Es finden sich Sätze wie:

"Besonders verblüffte Sam - viele Spiele, die er später mit Sadie entwickelte, befassten sich mit dem Thema -, wie schnell sich die Welt verändern kann. Wie sehr das eigene Selbstverständnis von der Umgebung abhängt."

"Denn womit beschäftigt sich ein Videospiel im Subtext, wenn nicht mit der Überwindung der Sterblichkeit?"

"Für ihn war Ichigo nicht nur eine Geschichte über Heimkehr, sondern auch über Sprache. Wie kommunizieren wir, wenn wir keine Worte haben?"

"Und das ist die Wahrheit eines jeden Spiels - es existiert nur in dem Moment, in dem es gespielt wird. Mit der Schauspie-lerei ist es genauso. Am Ende wissen wir nur, welches Spiel gespielt wurde, in der einzigen uns bekannten Welt."

"Für Sam war Mapletown die Geschichte seiner Schmerzen, der vergangenen ebenso wie der gegenwärtigen. Ein persönlicheres Spiel würde er nie wieder machen, obwohl es genau genommen natürlich nur die Hälfte eines Spiels war, von dem Sadie glaubte, es handle von ihrer Schwester."

 

Der Roman ist reich an unerwarteten Wendungen, an schönen wie tragischen Ereignissen. Jede Figur hat ihre eigene Sprache, wird individuell gezeichnet.

Gabrielle Zevin versteht sich bestens auf Dialoge, auch die diversen Nebenfiguren sind an ihrem Ton erkennbar.

 

Und in diese ereignisreiche Geschichte webt sie ihre Gedanken über die Freundschaft und was diese von der Liebe unterscheidet, sie spielt den Gedanken durch, ob man sich lieben und befreundet sein kann, in den Worten der beiden Protagonisten:

"Warum sind wir nie zusammengekommen? - Sammy, wir waren zusammen. Das musst du doch wissen. Ehrlich gesagt haben die wichtigsten Teile von mir immer dir gehört."

 

Im Leben mussten beide lernen, wie sich Scheitern anfühlt, nicht zuletzt im Spiel lernten sie, es zu überwinden.

Ein von Sam entwickeltes Spiel half Sadie, "ein Trauma ... zu verarbeiten" und es wird Sadies Spiel "Ludo Sextus" sein, das den Kreis des Romans schließt.  

 

Ich habe viel gelernt in diesem Roman über den Homo ludens als Gegenpart zum Homo oeconomicus, habe mitgelitten, wurde bestens unterhalten. Die Autorin kennt sich aus in der Welt der Spiele und sie weiß, wie man eine Geschichte entwirft, die über mehr als 500 Seiten die Spannung nicht verliert. Er hat etwas von sich überschneidenden Kreisen, mit Rückblicken, Gedanken zu Politik und Gesellschaft, tiefen Einblicken ins Innerste der Figuren, die auch von einem ganz besonderen Humor getragen werden.

 

Die gelungene Übertragung ins Deutsche stammt von

Sonia Bonné, ganz besonders gut gefällt mir das Wort "Spielkameraden", das sie für Sam und Sadie wählte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gabrielle Zevin: Morgen, morgen und wieder morgen

Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné

Eichborn Verlag, 2023, 560 Seiten

(Originalausgabe 2022)