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November 2023

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Verena Prantl: Glas

Eva, Anfang zwanzig, sucht ihre Identität. Und sie kämpft gegen ihre Angst, die sie immer wieder als nicht real bezeichnet, weil sie ja nur in ihrem Kopf sei. Dabei gibt es eine Figur im Roman, die sowohl eine innere Stimme, als auch ein realer Angreifer sein könnte, der Eva sichtbar verletzt. Das Spiel zwischen Realität und Vorstellung mit verschiedenen Erzählstimmen macht aus der Geschichte Evas einen eindringlich-zwielichtig schillernden Roman, der grundsätzliche Fragen stellt. Ein starkes Debüt.

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Drago Glamuzina: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik 

Vierzehn Menschen sitzen eine Nacht lang zusammen und erzählen sich Dinge, die sie niemals erzählen wollten. In diesem modernen Dekameron werden alle Möglichkeiten ausgelotet, "was die Menschen sind und wozu sie fähig sind." Es geht um die Ereignisse, die das Leben verändert haben, "dessen wir uns schämen oder das wir fürchten." Der Ton variiert je nach Erzähler, was völlig fehlt sind Pathos oder Sentimentalität. Es geht um die Essenz der Geschichten.

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María Gainza: Schwarzlicht

Die argentinische Schriftstellerin und Kunstkritikerin begibt sich in diesem funkelnden Roman in die Welt der Fälscher:innen und stellt dabei die grundsätzliche Frage: Was ist ein Original? Dies gilt auch für die Rekonstruktion eines Lebens durch  Biograf:innen, die versuchen, einzelne Bilder zu einem Ganzen zusammenzu-setzen. Vielstimmig und weiträumig ist dieser Roman, er ist fantasievoll, nachdenklich und von einem wundervollen Witz getragen.

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Laura Vinogradova:

Wie ich lernte, den Fluss zu lieben

Rute verlässt die Stadt und damit ihr altes Leben. Sie zieht in das von ihrem Vater geerbte  Haus mitten im Nirgendwo. Der Kontakt zu ihrer Nachbarin, vor allem aber das Leben in der Natur und Lauschen auf das, was der Fluss ihr erzählt, führt sie allmählich zurück zu sich selbst und den Menschen. Langsam weichen Schmerz und Sehnsucht und ermöglichen ein Weiterfließen des Lebens. Der feine, ruhige Roman verzahnt durch eingefügte Briefe Rutes an ihre vor langer Zeit verschwundene Schwester gekonnt die Innen- und Außenansicht und lässt die Leser:innen teilhaben an einem präzise gezeichneten Leben.

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Anne Serre: Die Gouvernanten

Dieser flirrende, märchenhafte Roman erzählt von der glücklichen Selbstvergessenheit der Jugend und von weiblicher Lust. Die jungen Gouvernanten scheren sich wenig um die Jungen, die sie beaufsichtigen sollen, lieber planen sie Bälle, tanzen nackt in der Sonne, locken einen Fremden ins Dickicht, wo sie ihn "nach allen Regeln der Kunst" verschlingen. Doch die offenherzige wie geheimnisvolle Geschichte erzählt auch von der Selbstgewissheit, sie ist der Zwilling der Selbstvergessenheit. Das Ende der sinnlich wie komischen Gouvernanten-Geschichte ist eine unerwartete Verwandlung, ein echter Coup.

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Theres Essmann: Dünnes Eis

Marietta ist neunundneunzig, seit Jahrzehnten trägt sie ein Geheimnis mit sich, das sie nicht einmal ihrem Mann anvertrauen konnte. Doch nun lernt sie ein syrisches Flüchtlingskind kennen, eine junge Fotografin, und sie erfährt die Geschichte ihres griesgrämigen Nachbarn, der noch immer ein Hitlerbärtchen trägt.

Alles zusammen wühlt sie auf, fügt aber auch lose Enden ineinander - manchmal braucht es ein ganzes langes Leben, um sich einem traumatischen Erlebnis zu stellen. Theres Essmann verknüpft in ihrem vielschichtigen, weiträumigen, poetischen und klug komponierten Roman viele Fäden zu einem so dichten wie zarten Gewebe. Die Geschichte erzählt vom Schrecklichsten, vom Schönsten, von Gewalt und Versöhnung.

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