Hier finden Sie Bücher, die sprachlich oder durch ihre Komposition herausragen

Paolo Rumiz: Europa. Ein Gesang

Dieses grandiose Epos verbindet den alten griechischen Mythos der von Zeus entführten Europa und den verloren gegangenen Traum eines Europa ohne Grenzen mit der Geschichte einer jungen, aus Syrien geflohenen Frau, die den Namen Evropa trägt. Vier Männer, eine internationale Gruppe, nehmen Evropa im Libanon an Bord, sie reisen mit ihr in einem Zickzack-Kurz bis nach Sizilien. Mit dieser Reise beschreibt Paolo Rumiz die gegenwärtige Situation des politischen Europa und beschwört mit der überzeitlichen Erzählung die Hoffnung auf eine Wiederauferstehung eines freien, menschlichen Europas.

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René Fülöp-Miller: 

Die Nacht der Zeiten

Der 1955 erstmals publizierte Roman nimmt eine Schlacht des Ersten Weltkriegs als Ausgangspunkt für einen Roman über den Krieg an sich. Gegen die Elemente der Natur kämpfen, über Befehle nicht nach-denken, sondern sie ausführen, den Tod entindividualisieren, Hunger und Durst ertragen wie eine nicht mit Vernunft zu bekämpfende Bürokratie der Amtswege, die eigene Menschlichkeit Stück für Stück aufgeben - der Roman beschreibt eindrücklichst, was der Krieg mit und aus den Menschen macht. Eine Feststellung wie "Kriege sind nur für den Tod da" und viele weitere Aspekte heben den Roman ins Überzeitliche. Am Ende defilieren die Kriegstoten aller Zeiten, aller Länder in einer Vision am Ich-Erzähler Adam Ember vorbei, ihre Kriegsgesänge werden abgelöst von den Klagen und Anklagen der Frauen. In einem Nachklang finden sich Fingerzeige, die bis in unsere Gegenwart reichen - das uralte Menschheitsthema `Krieg´ wird in "Die Nacht der Zeiten" zwischen Realität und Mythos in all seinen Facetten all seines gefährlichen Glanzes beraubt.

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Dincer Gücyeter:

Unser Deutschlandmärchen

Der Debütroman des Lyrikers Dincer Gücyeter ist ein Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn - für mich der erste, der eine türkische Einwan-derin in den Mittelpunkt stellt, ihr eine eigene Stimme verleiht. Fatma kam 1965 nach Deutschland, ihr Leben wurde von der Arbeit bestimmt, von der Pflicht, die Schulden ihres Mannes abzubezahlen, niemals aufzugeben, für ihre Söhne da zu sein. Dass der Älteste ans Theater gehen und Schreiben wollte, war ein Schock, hatte sie ihn doch zu einem richtigen Mann machen wollen. In seinem vielfältigen, vielstimmigen, poetischen Roman, in dem die Grenzen zwischen Biografie und Fiktion fließend sind, erzählt der Autor von Lebenswegen, Verletzungen, und von der unbändigen Kraft der Suche und Phantasie.

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Arno Tauriinen & Max P. Häring:

Goldgefasste Finsternis

Der Roman ist "Ein Luftschloss in Prosa", so der Untertitel. Er ist ein barockes Welttheater auf verschiedenen Bühnen, opulent, assoziativ und schwebend illustriert von Max P. Häring. Er beginnt vor Beginn der Zeit, er endet in einer unbestimmten Zeit, diese wurde angehalten. Der Schauplatz ist "W.", unverkennbar Wien, eine Stadt, die von Luciver persönlich geschaffen wurde. Er wollte damit seinem Vater Gott imponieren, doch der ist alt, griesgrämig und mit nichts zufrieden. Es treten Künstler, Psychoanalytiker, Beamte, Kleriker und viele viele andere auf, sie alle sind so real wie irreal - diese Kategorien sind sowieso nichts als Rauch! Dieser schillernde Roman wurde aus einem Konvolut an Zetteln extrahiert, er ist ein Sprachwunder, das seines-gleichen sucht. Man kann nichts als staunen, sich wundern, sich hineinziehen lassen in diese große Maschinerie namens Leben.

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Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen

Dieser sehr intensive, atmosphärisch dichte Roman erzählt von einem Mädchen, dessen einziger Verbündeter ein Engel ist. Die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, Freunde hat es nicht. Es ist fasziniert vom Fernsehen, das darf es nur beim Nachbarn Ege. Dort schaut sie bald nicht nur völlig versunken zu, sie steht auch vor der Kamera, die Lebens-gefährtin Eges filmt. Es geht um Werden und Sein, um die Herstellung von Zusammenhängen, um Vorbestimmung und Zuschreibungen, darum, dass "alles seinen Preis hat".

Es geht um die Folgen der sogenannten Sexuellen Revolution, um  Verantwortungslosigkeit, Blindheit und darum, den Absprung zu schaffen. Ein bestens komponierter, verstörender Roman, den man mehr als einmal lesen wird.

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Bettina Hartz: Rot ist der höchste Ernst

In ihrem grandiosen Debütroman erzählt Bettina Hartz von der Schriftstellerin Milena, die sich einen Lebensgefährten ausdenkt. Hans erscheint als eine reale Figur, doch er könnte auch eine Seite von Milenas Persönlichkeit sein. Auf diesem doppelten Boden bewegt sich der Roman, der tief reflektierend über Abhängig- und Unabhängigkeit, über Einsamkeit und Nähe, über Leben und Schreiben, d.h. Leben erfinden, nachdenkt. In einer einzigartigen, atemlosen Sprache, die ohne Floskeln oder Redewendungen auskommt, entwickelt sich eine Geschichte, die viele Fragen stellt, Rätsel aufgibt, Gesagtes und Ungesagtes miteinander verwebt, in die europäische Geschichte sowie ins Innerste Milenas führt. 

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Miguel de Unamuno: Nebel

Dieser Roman, der reich an Verwirrun-gen, Turbulenzen und  Wendungen ist, erzählt die Geschichte Augustos. Dieser verliebt sich Hals über Kopf in die junge Klavierlehrerin Eugenia, die jedoch bereits einen Liebsten hat.

Die Liebesgeschichte ist der Anlass für komische und tragische Ereignisse, vor allem aber die großen Fragen nach Glück und Leid, Traum, Realität, Religion, Sterblichkeit und sehr viel mehr. Der 1914 entstandene Roman, der in einer Begegnung Augustos mit seinem Schöpfer Miguel de Unamuno kulminiert, rüttelt das Denken der LeserInnen gründlich durcheinander. Er ist ein großes Experiment, eines, das magnetische Wirkung ausübt.

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Ann Quin: Passagen

Ann Quins flirrender, kaleidoskop-artiger Text handelt von der Suche einer Frau nach ihrem Bruder, der in einer Diktatur verschwand. Doch dieser Plot dient eher als Konstrukt, an dem sich die Fragen nach Identität, Realität, Traum und Veränderung entzünden. Ein tragendes Element des experi-mentellen, poetischen und außergewöhnlichen Buches ist das Meer. Viele Strömungen unterlaufen sich hier wie dort, nichts ist gesichert, der Text verzeichnet eine Suche, die auch die herrschende Vorstellung von der Zeit durchkreuzt. "Passagen" ist ein absolut einzigartiges und herausfordern-des Buch. Jede und jeder wird hier eine andere Geschichte lesen.

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Eeva-Liisa Manner:

Das Mädchen auf der Himmelsbrücke

Die neunjährige Leena ist die zentrale Figur dieses Romans, in dem die Grenzen zwischen Traum und Realität, Wünschen und Erinnerungen, Himmel und Meer verschwimmen. Das Kind lebt in mehr als einer Welt, es einsam zu nennen ist richtig und falsch zugleich, denn der ganze Roman, der so präzise wie poetisch Leenas Innen- und Außenwelt beschreibt, schwebt, fließt, ist wie ein Märchen, zugleich ganz konkrete Wirklichkeit. Der 1951 erschienene Roman ist der Erstling der großen finnischen Autorin, der nun erstmals auf Deutsch gelesen werden kann. Er ist völlig außergewöhnlich, in jeder Hinsicht.

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Olga Tokarczuk: Anna In - Eine Reise zu den Katakomben der Welt

"Anna In" ist die Neuinterpretation der sumerischen Göttin Inanna, Auf diese Göttin der Liebe und des Krieges, die in die Unterwelt stieg und sie lebend wieder verlassen konnte, gehen alle Mythen, die sich um Tod und Wieder-auferstehung ranken, zurück. Olga Tokarczuk zeichnet sie als rebellische junge Frau, die die Ordnung der Götterväter auf den Kopf stellt. Die Macht dieser Götter hat Grenzen, indem Anna In ihre Angst vor dem Tod ablegt, zeigt sie ihnen genau das.

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Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt

Die Stadt Kyjiw, in die Stepan Radtschenko in den 1920er Jahren kommt, ist für den Jungen vom Dorf ein Versprechen der Zukunft.

Er will studieren und aktiv die neue sozialistische Welt mitgestalten - doch er verlässt den vorgezeichneten Weg, um Schriftsteller zu werden. In seinem Leben spiegelt sich die Situation und das Denken der Metropole, Stepan verkörpert eine Epoche. Grandios erzählt, ist Pidmohylnyjs Roman ist ein Klassiker der ukrainischen Literatur, nun wurde er fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen erstmals ins Deutsche übersetzt. Eine große Entdeckung!

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Esther Kinsky: Rombo

Am 6. Mai 1976 erschütterte ein schweres Erdbeben den Nordosten Italiens. Diesem Beben, das "Leben und Landschaft in ein Vorher und ein Nachher" spaltete, spürt der Roman "Rombo" nach. Sieben Menschen nähern sich dem Geschehen an, konkretisieren ihre Erinnerungen im Lauf ihre Erzählens. Die Autorin geht außerdem auf Flora und Fauna, Geologie, Politik und gesellschaftliche Strukturen ein - der Roman ist ein Gang durch die Welt. Und ein unglaublich vielfältiges, auch sprachlich herausragendes Zeugnis der Erinnerungskultur.

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James Baldwin: Ein anderes Land

Der schwarze Musiker James Scott stürzt sich von einer Brücke in den Tod. Keine dreißig ist er geworden, was hat ihn gebrochen? Seine Schwester Ida sucht die Wahrheit und kann sie in keiner anderen Tatsache finden, als dass er schwarz war. James Baldwin beleuchtet das Thema schwarz-weiß in seinen unendlich vielen Ausprägungen. Er begibt sich tief in die Seelen seiner schwarzen und weißen Figuren, erkundet deren Suche nach Liebe und Freiheit, nach den Möglichkeiten des Lebens, die vielleicht nur in einem anderen Land gefunden und realisiert werden können. Ein überwältigend intensiver Roman, erschütternd, bereichernd und heute so aktuell wie bei seinem Erscheinen 1962.

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Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten

"Letzte Geschichten", ein Roman in drei Teilen, erzählt von Mutter, Tochter und Enkelin. Er erzählt vom Sterben und damit vom Leben. Er erzählt von der Unendlich-keit, dem Körper, dem Sein in der Welt, poetisch und ohne Pathos.

Olga Tokarczuk spannt einen Bogen von der Flucht aus dem Osten am Ende des Krieges bis in unsere Gegenwart. Eine ihrer Heldinnen ist Reiseleiterin, deren Rolle beschreibt Tokarczuk so: "Sie ist Vermittlerin. Sie spricht im Namen von etwas Größerem, das viel verzweigt und kollektiv ist und eigentlich keine Grenzen hat" - diese Rolle könnte auch die der Dichterin sein. 

Ganz große Lesefreude!

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Willi Wottreng: Jenische Reise

Die fast tausendjährige Anna berichtet von der Geschichte ihres Volkes der Jenischen. Zwischen Phantasie und Wirklichkeit angesiedelt, stets jedoch der Wahrhaftigkeit verpflichtet, erzählt der Dichter Willi Wottreng mit der Geschichte dieses Volkes auch die Geschichte Europas - aus der Perspek-tive der Armut und der Frau. Ein ganz außergewöhnlicher, wunderbar weiträumiger, verschiedene Zeitebenen fassender Text, "Eine große Erzählung",  die in jeder Hinsicht herausragend ist. Ganz ganz große Empfehlung!

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Christine Wunnicke:

Die Dame mit der bemalten Hand

Den Forschungsreisenden Carsten Niebuhr aus dem Bremischen hat es

auf die indische Insel Elephanta verschlagen. Dabei sollte er in Arabien den Wahrheitsgehalt der Bibel erforschen. An Sumpffieber leidend kippt er dem Astronom Musa al-Lahuri vor die Füße, diesem bleibt nichts anderes übrig, als sich um den Europäer zu kümmern.

Es entwickelt sich ein sagenhaftes Gespräch über Gott, die Welt, den Menschen und den Himmel zwischen diesen beiden Männern der Wissenschaft - sehr poetisch, wahr und erfunden - Christine Wunnicke räumt ihren LeserInnen einen Platz auf dem fliegenden Teppich der Poesie ein.

Dieser verwebt Realität und Phantasie auf hochspannende und sehr unterhaltsame Weise.  

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Michael Stavaric: Fremdes Licht

Ein Eisplanet in ferner Zukunft,

das traditionelle Grönland des 19. Jahr-hunderts und als Verbindungsglied die Weltausstellung in Chicago 1893 - Symbol für den Aufbruch in eine hochtechnisierte Welt - zwischen diesen Zeitebenen bewegt sich der Roman, der als Science Fiction beginnt und einen weiten Bogen in die Vergangenheit schlägt. Unglaublich vielfältig in Stil und Inhalt stellt Michael Stavaric anhand der beiden Hauptfiguren Elaine und Uki die großen Fragen der Menschheit. Der aus vielen Blickwinkeln zu lesende Roman ist beeindruckend gut, spannend, poetisch und realistisch zugleich. 

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Thien Tran: Gedichte

Mit dem Begriff "Existenzerforschung" lassen sich die mehr als hundert Gedichte Thien Trans (vielleicht) fassen. Ein "Ich" sucht einen Platz in der Welt - welcher Welt, muss sofort gefragt werden. Ausgehend von Naheliegendem, Sichtbarem, Hörbarem, oder auch von einer Idee, wie "Demokratie" oder "Musique Conrcéte", fliegen die Gedanken Thien Trans über die Zeilen hinaus. Er bleibt nah an der Welt, zugleich gibt es kein Gedicht, das nicht einen tiefen Raum unterhalb der Oberfläche trägt. Verschiedene Ebenen der Wahrnehmung und des Seins überlagern sich, gehen ineinander über - Thien Tran (1979-2020) lotet Möglichkeiten aus. Sie geben viel zu bedenken, diese Gedichte, sie sind aber auch einfach schön.

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Olga Tokarczuk: Unrast

Ein Roman, der aus Episoden, Briefen, Essays, Novellen, Reflexionen, der direkten Ansprache des Lesers durch ein "Ich" besteht, der sich dem Thema Bewegung widmet (die nicht ohne ihr Gegenteil beschrieben werden kann),

der von Köpern fasziniert ist und diesen breiten Raum lässt, der viele Helden hat, Personen, die durch die Zeiten und von Ort zu Ort wandern - dieser Roman ist eine unglaubliche Vielfalt an Gedanken, an Schönheit, an Leben. Geschrieben in den unterschiedlichsten Klangfarben von Sprache, er lässt sich kaum fassen, aber er fasziniert außerordentlich.

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Nicola Pugliese: Malacqua

In den strömenden Regen, der nicht nur in die Knochen, sondern in die Seelen dringt, lässt Nicola Pugliese (1944-2012) die Gedanken seiner Figuren fließen. Sie alle befinden sich in einer Art Wartezustand, denn etwas, irgendetwas muss sich doch ändern durch oder nach dem Regen. Viele Themen wandern durch die Köpfe und die Geschichte, persönliche Hoffnungen und Ängste, das völlige Versagen der Politik, der allgegenwärtige Aberglaube - Puglieses Roman baut sich langsam auf, er führt vor Augen, dass die menschliche Existenz uferlos und vielfarbig ist wie das Wasser, auch wenn das Leben nach außen hin eintönig und gleichförmig wirkt.

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Dorothea Dieckmann: Kirschenzeit

Eine Mutter reist nach Colmar, um dort ihre erwachsene Tochter zu treffen. Bilder aus einer ersten Reise dorthin, Erinnerungen an die Vergangenheit, blitzen auf, legen sich zwischen die Bilder der Gegenwart. Den Isenheimer Altar mit seinen Schreckensbildern möchten die beiden gemeinsam besichtigen - begleitet werden sie von einer Erzählerin, die als ein "Ich" mit dabei und zugleich außen vor ist.  Die Erzählerin schafft ein eindringliches Wort-Bild, in dem, wie auf einem Gemälde, jeder Pinselstrich bzw jedes Wort, wichtig ist, jedes Detail eine Bedeutung hat, die sich in der Zusammenschau mit anderen Details vervielfacht.  So wird aus der Mutter-Tochter-Geschichte ein weiträumiges Bild, das die Frage nach der Möglichkeit eines "zweiten Blicks" stellt.

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Tor Ulven: Ablösung

Veränderungen des Lichts, Schattierun-gen der Dunkelheit, Figuren in den verschiedensten Situationen und Konstellationen, vom Jungen bis zum Greis - dieser Roman verfügt weder über eine Handlung, noch über eine Hauptperson, er spielt mit den Ebenen des Denkens, Träumens, Erinnerns, Trauerns. Die Figuren finden sich ab, lösen sich ab. Die Sprache ist präzise und rhythmisch, der Stil einzigartig, sie sind es, die den Zauber dieses Buches ausmachen, dessen Inhalt an vielen Stellen rätselhaft bleibt.

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Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss

Dieser sehr poetische Roman erzählt

in dichten Bildern und mit großer sprachlicher Kraft die Geschichte der Freundschaft von Siss und Unn, zwei elfjährigen Mädchen - und vom Verlust eines geliebten Menschen. Unn kommt als Waise zu ihrer Tante in ein Dorf. 

Sie hält sich stets am Rand, doch Siss, die Anführerin der Kinder, fühlt sich sofort zu ihr hingezogen. Nach einem magischen Abend, an dem die Freundschaft besiegelt und ein Geheimnis zwar nicht ausgesprochen wird, fortan aber das Leben von Siss bestimmt, verschwindet Unn im Eis-Schloss, das sie angezogen und in einen Rauschzustand versetzt hat. Sie kommt nicht zurück. Siss hat nun einen weiten Weg zurück in ihr Leben vor sich, die Gemeinschaft des Dorfes, die Erwachsenen wie die Kinder, begleitet sie auf einzigartige Weise. Dieser Roman über Verlust und Einsamkeit, Stärke, Mut, Zusammenhalt und Freundschaft brennt sich ins Gedächtnis, er ist ganz große Literatur.

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Cesare Pavese: Das Haus auf dem Hügel

Turin 1943/44, die Stadt wird bombardiert, wer kann, flieht in die Hügel außerhalb der Stadt. Dort lebt Corrado, der Held des Romans schon seit Jahren, hierhin zog er sich in seine selbstgewählte Einsamkeit zurück. Durch Zufall trifft er Cate, eine Liebe aus vergangenen Tagen wieder, sie hat einen achtjährigen Sohn, der Corrados Kind sein könnte. Cate gehört zu einem Kreis von Widerständlern, sie ist eine sehr selbständige Frau geworden. Diese Begegnung weckt nicht nur Erinnerungen, sie verändert das Leben Corrados. Der Krieg holt schließlich auch ihn mit voller Wucht ein, er flieht, zuerst versteckt er sich in einem Kloster, dann schlägt er sich in sein Heimatdorf südlich Turins durch. Eingebettet ist dieses historisch genaue Dokument in die Überzeitlichkeit der Landschaft, die mehr ist als das, sie ist ein heiliger Ort, Träger einer uralten Kultur. Pavese arbeitet in seinen Roman die Fragen nach Verantwortung, Schuld, Angst, Einsamkeit, Krieg und Bürgerkrieg ein, er entwickelt einen überaus vielfältigen Reigen unterschiedlichster Charaktere (keineswegs verengt er seine Sicht auf den Ich-Erzähler). Seine präzise, rhythmische und moderne Sprache hat Maja Pflug trefflich ins Deutsche übertragen, sie hat das Werk entstaubt und ins Heute geholt. 

Das ist Literatur auf allerhöchstem Niveau.

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Boris Poplawski: Apoll Besobrasow

Besobrasow ist ein ungebundener Geist, einer, der ausschließlich seiner eigenen inneren Stimme folgt, weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, sondern in einer Art ewiger Gegenwart lebt - das klingt nach großer Freiheit,

in Wahrheit ist es Entwurzelung und Verlorenheit. Er ist ein russischer Exilant in den zwanziger Jahren in Paris, wie auch die anderen jungen Menschen, die sich um ihn herum einfinden, und für eine begrenzte Zeit eine feste Gruppe, eine Schicksalsgemeinschaft, bilden. Der Zufall

trägt sie von Paris aus an den Gardasee, doch auch dort,

in den Bergen, finden die schwebenden Geister keine Ruhe.

Olga Radetzkaja hat die expressive, lyrische Sprache  vortrefflich ins Deutsche übertragen, das Buch schillert und leuchtet in allen Farben.

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Laura Freudenthaler: Geistergeschichte

Die Klavierlehrerin Anne hat sich ein Freijahr genommen. Ihr eigenes Spiel möchte sie pflegen und ein Lehrbuch schreiben. Doch sie ist völlig aus dem Takt geraten, weil sie meint, ihr Mann Thomas hätte eine Affäre.

Anstatt zu spielen wandert sie durch die Stadt, stellt sich vor, wie Thomas sich mit "dem Mädchen" trifft - und sieht Schatten durch die Wohnung huschen, ein Gesicht am Fenster etc. Realität und Vorstellung verschwimmen, es

ist nicht mehr zu unterscheiden, was passiert und was passiert sein könnte. Laura Freudenthalter gelingt es, den Leser vollkommen in die Wahrnehmung und Gedankenwelt  Annes hineinzuziehen, ihn in einen Raum voller Spiegel und in die Schwebe von Wirklichkeit und Phantasie zu entführen. Dabei überlässt sie es dem Leser, die Geistergeschichte zu deuten, ihr Roman ist kein psychologisches Dossier, sondern ein Sprach-Kunst-Werk.

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Jacqueline Moser: Ich wünsche,

wir begegneten uns neu

Die vierzigjährige Ella, Grafikerin und Künstlerin, hat ihren Mann verlassen und lebt nun mit ihrem Sohn Milo, fünf, in einer Wohnung in einer großen Anlage.

Sie ist nach einem epilep-tischen Anfall,

als dessen Konsequenz sie ihr bisheriges Leben aufgegeben hat, völlig erschöpft. Aus einseitigen Notaten oder Sequenzen, kunstvoll ineinander geschich-teten Zeitebenen und der vorsichtigen Setzung von Schwerpunkten in den acht Teilen, komponiert Moser einen klugen, leisen und präzisen Roman, der von der Entfaltung und Befreiung einer Frau erzählt, die die Kunst des Papier-faltens für sich entdeckt hat. Diese Tätigkeit gibt ihrem Leben eine Struktur, führt sie zurück zur Kunst und gibt ihrem Leben eine selbstbestimmte Zukunft.

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Esther Kinsky: Hain, Geländeroman

Drei Reisen unternimmt die Ich-Erzählerin: in die Bergwelt Olevano Romanos, in das Dorf Chiavenna in der Lombardei  und in die Lagunen-landschaft um Comacchio im Podelta.

Ganz Wahrnehmung und sehr präzise erkundet sie das Gelände, gleichzeitig

ist ihre Reise eine nach Innen. Erinnerungen an die Kindheit, vor

allem an den Vater, werden wach, die Leerstelle des kürzlich verstorbenen Lebensgefährten M. wird schmerzlich bewusst. 

Der Geländeroman Esther Kinskys erzählt von Abwesenheit und von Verlorenem. Er tut dies in einer ungeheuren Präsenz von Wirklichkeit und Realität. Kinsky beschreibt aber wesentlich mehr als die sichtbare Realität - stets schwingt eine an die Vergangenheit erinnernde, an das momentane Empfinden oder eine philosophische Überlegung anstoßende Ebene mit. So transformiert die Dichterin das (konkrete) Gelände in einen "Hain". Seit dem 18. Jahrhundert gilt dieser als Sitz und Symbol der Dichtkunst. 

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Dorothy Baker: Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

Rick Martin ist mit vierundzwanzig Jahren auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen: er ist der beste Jazz-Trompeter der Welt. Begonnen hat er als Pianist in Los Angeles, doch sein Instrument ist die Trompete, die

er in diversen New Yorker Orchestern spielt. Und vor allem nach der Arbeit im Orchester, wenn für ihn die wirkliche Art, Musik zu machen beginnt. Frei, ohne Rücksicht auf das Publikum,

mit Musikern, die auf die gleiche besessene Art spielen.

In seinem Leben gibt es nichts, das längere Zeit Bedeutung hätte - außer der Freundschaft zu Smoke und wenigen anderen schwarzen Musikern, mit denen der weiße Rick zusammenspielt. Sein Talent verschlingt schließlich sein Leben. Er trinkt immer mehr - was sein Spiel nicht beeinträchtigt - sein Leben aber mit nicht einmal dreißig Jahren beendet. Bakers Roman ist phantastisch komponiert: um das Grundthema herum führt sie so viele Gedanken aus, dass eine komplexe Melodie, ein unverwechselbarer Sound, ein variantenreicher Rhythmus entsteht, der dem Sog des Jazz in keiner Weise nachsteht.

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Alan Bennett geht ins Museum

Der Dramatiker, Essayist, Romanautor und Bilderstürmer Bennett geht ins Museum. Dort betrachtet er Bilder und Besucher, macht sich sehr frei seine Gedanken zur Ikonographie, zu den Malern (auch die großen Autoritäten entgehen seinen offenen Augen und Kommentaren nicht),

er spricht von Diebstahlphantasien und englischen Gewohnheiten, und er wird nicht müde zu betonen, dass Kunst Normalität und Teil des Lebens ist.

Und bleiben soll. Und darum muss sie frei zugänglich sein. Dieser politische Aspekt gibt seinen sieben Essays jedoch keine pädagogische Note - Bennetts Stil der komischen Ernsthaftigkeit ist unglaublich charmant und gewinnend. Man geht gerne mit ihm ins Museum und man geht nach

der Lektüre dieses Buches anders ins Museum - beschwingt und befreit.

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Henry James: Lady Barbarina

Der sehr vermögende Jackson Lemon,

ein amerikanischer Arzt, verliebt sich in

die schöne, aus altem englischem Adel stammende Lady Barbarina. Schon vor der Eheschließung tut sich manches Hindernis auf, das den verschiedenen Traditionen der Alten und Neuen Welt geschuldet ist.

Der Umzug nach New York stürzt die junge Ehe bald in eine Krise, denn Lady Barb fehlt einfach alles, was ihr Leben ausmachte. Im Gegensatz dazu greift ihre Schwester Agatha, die sie begleitet, sämtliche Möglichkeiten am Schopf und stürzt sich kopfüber ins freie Leben.

James beschreibt das Aufeinandertreffen der Kulturen sehr feinsinnig, ohne sich auf eine Seite zu schlagen und mit viel freundlicher Ironie und Sympathie für seine Geschöpfe.

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Johannes Bobrowski: Mäusefest

Zweiundzwanzig Erzählungen aus den Jahren 1962 bzw 1965, die auf die Zeit vor und während des Krieges zurückblicken. Die Personen in den Geschichten ahnen, was auf sie zukommt, der Leser weiß es.

Bobrowski erzählt von Menschen und Landschaften (dem Ostpreußen seiner Kindheit), von Bedrohung, Verlust und Verwüstung. Und dies in einer außergewöhnlichen Sprache, die präzise, bilderreich, poetisch und auch witzig ist.

Tief- und hintergründig sind die auf den ersten Blick so ruhigen Texte, in ihnen herrscht eine großartige Weite -

auch wenn sie in kleinen Dörfern und kleinsten Hütten angesiedelt sind.

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Antanas Skema: Das weisse Leintuch

Skema schrieb diesen Roman zwischen 1952 und 1954, der Held Antanas Garsva

ist sein Alter Ego. Der während des Zweiten Weltkrieges aus Litauen über Deutschland in die USA emigrierte Dichter arbeitet als Liftboy und versucht in immer neuen Ansätzen das zu fassen, was in diesem

20. Jahrhundert geschehen ist. Mit Litauen und der europäischen Kultur, mit seinem eigenen Leben.

Es entsteht ein dichtes Geflecht aus Erinnerungen, Episoden, Überlegungen und Wahrnehmungen, das up and down des Aufzugs begleitet das Hin und Her der Gedanken Garsvas.

Der Leser hat die Aufgabe, viele Puzzleteile zusammen zu setzen - er wird dafür mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt.

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Peter Waterhouse: Die Auswandernden

Media ist mit ihrer achtjährigen Tochter nach Wien geflüchtet. Sie befindet sich im Asylverfahren, sie lernt die deutsche Sprache kennen. Flucht und Sprache sind die Themen des Buches, Waterhouse behandelt sie jedoch auf eine Weise, die einzigartig ist. Es wird keine klassische Geschichte erzählt, es wird das innere Leben von Worten beleuchtet und damit ins Innere des Menschen geblickt.

Die Lernende lehrt ihren Lehrer Linien zu erkennen, die ihm neu sind, sie lehrt ihn, Worte neu zu denken. Dies führt ihn zu dem Gedanken, ob "Literatur keine schreibende Kunst, sondern eine Kunst der Auswanderung" ist? Auswanderung als Aneignung, Verwandlung, Neubeginn, als Prozess, ist der Kernpunkt seiner Überlegungen, wunderbar in Szene

gesetzt werden sie von Nanne Meyer. Sie hat Zeichnungen angefertigt, die 58 Doppelseiten füllen und die Worte des Autors verdichten, vertiefen, dramatisieren.

Im Zusammenspiel von Wort und Bild ist so ein Buch entstanden, das sich allen Kategorisierungen entzieht.

Es ist ein wunderbar spielerisches Buch entstanden, frei

nach dem Schillerschen Gedanken, dass der Mensch nur

dort ganz Mensch ist, wo er spielt.

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Virginia Woolf: Orlando

Orlando wird im 16. Jahrhundert in England geboren. Vom Hof der Königin wechselt er als Gesandter nach Konstantinopel, fällt dort nach vielen Turbulenzen in seinem Leben in eine tiefe Trance - und wacht als Frau wieder auf. Damit wechselt der Blickwinkel von der männlichen in die weibliche Perspektive und gibt der unnachahmlich scharfsinnigen Dichterin die Möglichkeit, durch die verschiedenen Zeitalter zu schreiten und deren Veränderungen mit viel Witz einzufangen - denn Orlando lebt weiter.  In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Orlando eine moderne Frau geworden, die selbstbewusst ihren Wagen durch London steuert, doch sie ist auch eine,

die immer noch sehr gegen überkommene Vorstellungen kämpft. Ein grandioses Lesevergnügen, kein bisschen angestaubt, sondern immer noch hochaktuell.

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Sasa Stanisic: Fallensteller

In der titelgebenden Erzählung kehrt Stanisic nach Fürstenfelde in der Uckermark zurück. Lada, Schramm, das Ehepaar Zieschke, und all die anderen sind noch da. Ganz unerwartet gesellt sich der Fallensteller zur Dorfgemeinschaft, freilich ohne dazu zu gehören. Er bleibt ein Fremder, der die Nöte der Menschen aufnimmt, manchmal mitnimmt, sie ernstnimmt? Stanisics Figuren in allen Erzählungen sind Suchende, ihnen begegnet Absurdes, Komisches, Trauriges, sie verantworten Diebstähle, vermasselte Auftritte, manchmal hilft nur eine Lüge weiter und allmählich ist nicht mehr klar, wer hier eigentlich wer ist, wer mit wem seinen Spaß treibt und wohin das alles führen soll. Stanisic liebt das Fabulieren, das Jonglieren, das Erfinden und er liebt seine Figuren. Er treibt sein Spiel mit ihnen, aber er tut es, um sie freier zu machen.

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Richard Hughes: Orkan über Jamaika

Die zehnjährige Emiliy wächst mit vier Geschwistern in Jamaika auf. Als ein Orkan Haus und Land verwüstet, beschließen die Eltern, die Kinder nach England zurückzuschicken. Auf der Überfahrt wird ihr Schiff von Piraten gekapert, die Kinder setzen die Reise zusammen mit diesen fort. Sie leben weiterhin in einer Welt fernab der Zivilisation, in diese geraten sie, als sie einem Passagierdampfer übergeben werden. Und London erreichen. Ihre Rückkehr ist eine Sensation, man dachte, sie wären ermordet worden.

Es folgt ein Gerichtsprozess gegen die Piraten, die den Kindern zu keiner Zeit auch nur ein Haar krümmten, aber die Gerichtsbarkeit sieht eine solche Tatsache nicht vor.

Der frische Abenteuerroman aus dem Jahr 1929 spielt viele Themen durch: Kindheit, Gerechtigkeit, Erwachsenenwelt, Zivilisation, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit - und dies spannend und unterhaltsam, denn der Autor kann wunderbar erzählen.

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Dana Grigorcea:

Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit

Victoria ist Bankerin, zurückgekehrt in die Stadt ihrer Kindheit: Bukarest. Weil sie Opfer eines Bankräubers wurde, wird sie beurlaubt, um sich zu erholen. In ihrer freien Zeit streift sie durch die Stadt, mit dem Rad, dem Bus oder zusammen mit ihrem Freund im Auto. Sie begegnet Orten und Menschen, die Erinnerungen in ihr wachrufen. In vielen kleinen Geschichten geht die Autorin diesen nach, zusammen gehalten werden sie von einem überschaubaren Kreis von Menschen, die die Geschichten "bevölkern".

Grigorcea wechselt frei zwischen verschiedenen Zeitebenen, eine wunderbare Schwerelosigkeit charakterisiert ihren Stil. 

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Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Als Siebzehnjährige werden Walter und Fiete, zwei Melkerlehrlinge aus Norddeutschland, im Februar 1945 zwangsrekrutiert, zur Waffen-SS.

Wochen später treffen sie sich in Ungarn wieder, Fiete liegt im Lazarett. Kurz darauf versucht er zu desertieren, wird gefasst und soll erschossen werden. Walter verwendet sich beim Kommandanten für seinen Freund, erfolglos. Er wird einer derjenigen sein, die den Karabiner auf Fiete anlegen. 

In diesem Roman, der vollständig ohne Kriegsromantik auskommt, vereinigen sich eine realistische Beschreibung der Geschehnisse und Zustände mit einer in poetischer Sprache sich manifestierenden Sympathie des Autors für seine tragischen Helden.

Dieser Roman könnte ein Klassiker der Antikriegsliteratur werden - Klang, Form und Inhalt bilden eine Einheit,

das Gespräch Walters mit Kommandant Domberg veranschaulicht sehr konzentriert Kälte, Perversion und Zynismus der Mächtigen.  

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Bruce Chatwin:

Der Vizekönig von Ouidah

Dom Francisco da Silva wird Ende des 18. Jahrhunderts im Sertao (Brasilien) geboren. Das Schicksal verschlägt ihn nach Westafrika, wo er zum Sklavenhändler, reichsten Mann des Landes und Vizekönig aufsteigt. Sein Leben gleicht einer Achterbahnfahrt:

er stirbt bettelarm, noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts sucht seine riesige Familie nach Papieren, die den Reichtum zurückbringen sollen.

Chatwins Geschichte nimmt die Legende um Francisco zum Ausgangspunkt, er kreiert daraus einen überbordend phantasievollen, wortmächtigen, bunten und unglaublich lebhaften Roman. Das "Skelett" dafür entstand in Ouidah (dem heutigen Benin), wo Chatwin 1977 in einen Putsch geriet und verhaftet wurde. Er kehrte nie mehr nach Westafrika zurück, die Eindrücke waren jedoch gewaltig genug, um dieses "Werk der Imagination" zu schreiben.

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Anna Enquist: Die Betäubung

Suzan, die Anästhesistin, und ihr Bruder Drik, Psychiater, gehen völlig gegensätzliche Wege, um dem Schmerz zu begegnen. Suzan betäubt ihn, Drik begleitet Menschen, die sich ihm stellen. Allard, ein junger Mann, der bei Drik eine Lehrtherapie macht, später die Abteilung wechselt und Suzans Praktikant ist, wird zu einer Art Katalysator, der beide an ihre Grenzen bringt.

Und das Leben einer ganzen Familie verändert. 

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 T. C. Boyle: Amèrica

Cándido und Amèrica sind illegal in die USA eingewandert. Die Mossbachers sind liberale Umweltfreunde, gutes Bürgertum, das die Werte der freien Welt verteidigt - theoretisch. Ein Unfall (Mossbacher fährt Cándido an und verletzt ihn schwer) setzt eine Spirale in Gang, die in einem Inferno endet. Boyle lotet die Grenzen der Toleranz aus und geht der Frage nach: Was kann ein Mensch alles aushalten? Strukturell sehr eindrucksvoll gegeneinander gearbeitet, dringt er tief in beide Welten ein und zeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist. 

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 William Faulkner: Schall und Wahn

 Faulkners Jahrhundertroman erzählt die Geschichte und den Verfall einer einstmals angesehenen Südstaatenfamilie.

Die Geschwister Benjamin, Quentin und Jason "schildern" ihre Sicht der Dinge in je eigenen Kapiteln, im letzten Teil führt der Erzähler die Fäden zusammen.

Faulkners Roman wurde als eines der "sieben stilistischen Weltwunder des 20.Jahrhunderts" bezeichnet - nun liegt er in einer Neuübersetzung vor, die dem Original gerecht wird.

Keine leichte Lektüre, aber eine außergewöhnlich gute.

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Sasa Stanisic: Vor dem Fest

Das Dorf Fürstenfelde in der Uckermark bereitet sich auf das jährliche Annenfest vor. Seine Bewohner (Lebende und nicht mehr Lebende), seine Geschichte in mehr als vier Jahrhunderten, sowie die Verzahnung verschiedener historischer Zeiten erschaffen einen vielstimmigen Chor, der einen Helden feiert: das Dorf.

Diese moderne Variante des Schelmenromans schickt nicht einen menschlichen Helden auf eine Abenteuerreise, das Dorf  selbst ist der Protagonist, der die Abenteuer zu bestehen hat. Eine grandiose Idee, fabelhaft ausgeführt.

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Elias Canetti:

Die Stimmen von Marrakesch

Jeder Ort hat seinen eigenen Klang: Kamelmarkt, Basar, Friedhof, eine Schule oder die Innenräume eines Privathauses. Canetti streift durch die Stadt, nimmt all die verschiedenen Töne auf und errichtet daraus ein einzigartiges Klanggebäude.

Den Leser beeindruckt die tiefe Religiosität aller Menschen, die Stimmen von Marrakesch lobpreisen Allah.

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Ralph Dutli:

Soutines letzte Fahrt

findet im Leichenwagen statt. Heimlich wird er nach Paris gebracht, er muss operiert werden. Während der 24stündigen Fahrt träumt Soutine, erinnert sich, phantasiert. Dutli gelingt in dieser sehr beeindruckenden, poetischen, wie ein Bild aufgebauten Romanbiographie die Darstellung eines Künstlerlebens in Paris und dem (besetzten) Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Marilynne Robinson: Haus ohne Halt

Dieser sehr stark von Wassermetaphorik geprägte Roman stellt die Schwestern Ruth und Lucille, die zusammen mit ihrer Tante in einem Haushalt leben, in den Mittelpunkt. Die beiden Mädchen sind so lange unzertrennlich, bis ein Blick von außen andere Sichtweisen bringt. Als junge Frauen wählen sie Lebenswege, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein zutiefst beeindruckendes Buch, ein Plädoyer für die Wahlfreiheit und ein Bekenntnis dazu,

dass immer ein Rest an Zweifel bleibt.

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Robert Seethaler: Der Trafikant

Franz, Lehrling eines Rauchwaren- und Zeitungsladens  in Wien, macht die Bekanntschaft des weltberühmten

Dr. Sigmund Freud. Und er lernt die Macht eines Diktators kennen, der ganze Nationen um den Verstand bringt.

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